Vorschlag einer Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenhandels

Stellungnahme vom 12.01.2018

Der Deutsche Notarverein dankt für die Gelegenheit zur Stellungnahme.

Wir treten der Stellungnahme des Ausschusses „Europäisches Vertragsrecht“ Nr. 01/2018 des Deutschen Anwaltvereins (DAV) vom Januar 2018 in vollem Umfang bei. Die Ausführungen der Kolleginnen und Kollegen kann man nur als fachliche und sprachliche Meisterleistung bezeichnen.

In Anknüpfung an diese Stellungnahme dürfen wir folgende Punkte besonders hervorheben und der Politik als Handlungsempfehlung nahelegen:

1. „There ain’t no such thing as a free lunch”

Zu Recht hebt der Deutsche Anwaltverein zum einen die nicht gerechtfertigten “Mitnahmeeffekte” hervor, die der Vorschlag der Europäischen Kommission durch negative Anreize an den Verbraucher schafft (vgl. Stellungnahme DAV unter I.4, S. 7 – 9). Kritikwürdig ist insbesondere der Wegfall der Beweislastumkehr für das Vorliegen eines bei Gefahrübergang vorhandenen Sachmangels nach sechs Monaten und das Fehlen eines Anspruchs des Unternehmers auf Nutzungsentschädigung.

Weiter verweist der Deutsche Anwaltverein insbesondere auf die durch überzogenen Verbraucherschutz bewirkte Verschwendung natürlicher Ressourcen, sei es durch die Entsorgung zurückgegebener Ware, sei es durch die aufwendige Transportlogistik des Fernabsatzes (Stellungnahme des DAV, S. 9, 10 – 11 unter I.6).[1]

Die Folgekosten dieses Regelungsansatzes werden teils eingepreist und damit an alle Verbraucher weitergegeben werden, teils in Form von Energie- und Ressourcenverschwendung sowie Umweltbelastung externalisiert. Man kann die Kollegen vom DAV nur zitieren: „Die Begründung lässt nicht erkennen, dass Fragen dieser Art auch nur gestellt wurden“ (Stellungnahme des DAV, S. 11 oben).

Hier werden Belange des Gemeinwohls nicht durch die Kommission angesprochen, dessen Wächter sie eigentlich sein sollte, sondern (mit voller Berechtigung) durch einen juristischen Berufsverband. Gesellschaftspolitisch ist das aus unserer Sicht zutiefst verstörend.

2. Die Fokussierung auf den Online-Handel hat gesellschaftliche und politische Folgen

Der Vorschlag harmonisiert die Rechtsfolgen von Fernabsatz und stationärem Handel. Das kritisiert der DAV zu Recht (Stellungnahme des DAV unter I.3, S. 6). Die Begründung der Kommission hierfür, dass im Online-Handel Wachstumspotenziale lägen, die es zu heben gelte,[2] sollte jedoch nicht unreflektiert zum Maßstab politischer Entscheidungen gemacht, sondern hinterfragt werden.

Das Ziel, den grenzüberschreitenden Warenverkehr im Binnenmarkt zu fördern, wird auch erreicht, wenn mehr ausländische Waren in den Regalen des stationären Handels liegen. Unter dem Gesichtspunkt der Transportlogistik dürfte es sogar effizienter sein, wenn man die „letzte Meile“, also den Weg vom Geschäft nach Hause, dem Verbraucher überließe.

Da unter dem Gesichtspunkts eines verantwortungsvollen Umfangs mit der Umwelt und den Rohstoffressourcen einerseits und seit Jahrzehnten stagnierender Realeinkommen andererseits die Menge dessen, was der Mensch konsumieren kann (bzw. sollte), begrenzt ist, sollte untersucht werden, inwieweit das Wachstum eines Handelssegments (Fernabsatz) nur unter Schrumpfung eines anderen Segments (stationärer Handel) erreicht werden kann. Die ökonomisch „Schöne Neue Welt“ könnte sich dabei als Nullsummenspiel herausstellen. Dabei ist an einer Favorisierung des Fernabsatzes potentiell problematisch, dass ehemals klassischerweise tarifgebundene Arbeitsplätze im stationären Handel häufig verloren gehen, zugunsten nicht tarifgebundener Arbeitsplätze, wie insbesondere die Beispiele (scheinselbständiger) Paketausfahrer  oder Call-Center-Mitarbeiter zeigen.

Diese Wandlungen der Arbeitswelt induzieren Abstiegsängste weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus. Die Folgen dieser Abstiegsängste können gesellschaftlich und politisch beobachtet werden, nicht zuletzt erfolgt häufig eine Hinwendung zu europakritischen Stimmungen.

Auch die soziale Dimension der Entscheidung für den Fernabsatz und gegen den stationären Handel sollte daher in die politische Entscheidungsfindung einbezogen werden, aus dem Vorschlag der Kommission ist dies bisher leider nicht ersichtlich.

3. Bedeutung der Rechtsdurchsetzung

Lapidar überantwortet die Kommission in Art. 17 Abs. 1 ihres Vorschlags die Rechtsdurchsetzung den Mitgliedstaaten, die dafür zu sorgen haben, dass „angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, mit denen die Einhaltung dieser Richtlinie sichergestellt werden kann.“

Ein bloßer Programmsatz hierzu reicht nicht aus. Denn hier übersieht der Vorschlag einen fundamentalen Unterschied zwischen stationärem Handel und Fernabsatz bei der Rechtsdurchsetzung.

Hat der Verbraucher in einem Fachgeschäft Ware erworben, die sich als mangelhaft erweist, dann sucht er mit der Ware dieses Geschäft wieder auf. Oft steht er vor demselben Verkäufer, der dem Verbraucher mit seiner Reklamation nun weiterhelfen muss. Diese unmittelbare Konfrontation ist unangenehm, und zwar unabhängig davon, wie das Gewährleistungsrecht im Einzelnen ausgestaltet ist. Die Bearbeitung der Reklamation bindet Arbeitszeit. Andere Kunden im Laden erfahren ebenfalls davon und ziehen für ihre Kaufentscheidung hieraus Schlüsse.

Für die Anbieter im stationären Fachhandel schafft dies einen Anreiz, nur qualitativ hochwertige Ware ins Sortiment zu nehmen.

Im Fernabsatz ist diese Situation nicht gegeben. Hier kann das Sachmängelgewährleistungsrecht noch so käuferfreundlich ausgestaltet sein, dem Unternehmer bleiben genügend Möglichkeiten, die Rechtsdurchsetzung für den Verbraucher zu erschweren. Der Unternehmer kann den Verbraucher in gebührenpflichtigen Telefonwarteschleifen verhungern lassen.[3] Das Unternehmen kann Reklamationen auch schlicht „aussitzen“, indem es erst einmal gar nicht reagiert. Notorisch ist diese Strategie etwa bei Fluggesellschaften. Auch Art. 6 Abs. 1c) der Verbraucherrechte-Richtlinie führt derzeit nicht unbedingt dazu, dass die Kontaktdaten des Unternehmers aus Schriftverkehr und Internetseiten einfach zu ermitteln sind. Art. 13 Abs. 3 lit. a des Vorschlags hilft angesichts dieser sozialen Realität nicht bzw. allenfalls nur bedingt.

Schaltet der Verbraucher einen Rechtsanwalt ein, so muss er erst einmal einen Anwaltskollegen finden, der bereit ist, angesichts des meist geringen Streitwerts faktisch unter seinen eigenen Kosten zu arbeiten. Die vorzuschießenden Kosten der Rechtsdurchsetzung übersteigen den Wert der Ware meist erheblich. Da ist es einfacher, den Verlust zu verschmerzen, die mangelhafte Ware einfach wegzuwerfen und sein Glück mit dem nächsten Schrottprodukt zu versuchen. Im Kapitalmarktrecht spricht man von der „rationalen Apathie“ des Anlegers. Diese Probleme sollen einerseits bekanntermaßen verfahrensrechtlich bekämpft werden durch Sammelklagen, die gerade auch die Kommission befürwortet.[4] Andererseits sollte dieser Gesichtspunkt beim materiellen Verbraucherschutzrecht nicht völlig außer Acht gelassen werden. Dabei kann sich der stationäre Handel wie dargelegt nicht in der Weise dem Verbraucher entziehen, wie es im Online-Handel möglich ist. Beide werden aber durch die neuen Regelungen mit dem vom Deutschen Anwaltverein herausgearbeiteten erhöhten Verbraucherschutz in derselben Weise betroffen, obwohl ein Bedürfnis hierfür hinsichtlich des stationären Handels nicht besteht (Stellungnahme des DAV, S. 6, unter I.3.).

Plakativ zusammengefasst: Ein „Mehr“ an materiellem Sachmängelgewährleistungsrecht verpufft im Fernabsatz, erhöht aber die Kosten des stationären Handels. Dieser wird damit weiter zurückgedrängt. Mindestens so viel Aufmerksamkeit im Verbraucherschutz gehört den Bereichen der Vorbeugung und der Rechtsdurchsetzung. Weniger, aber dafür durchsetzbare Verbraucherrechte sollten das Ziel sein.

Im Bereich der Vorbeugung könnte man etwa vorsehen, dass bei einer Kommunikation des Verbrauchers über eine ihm durch den Unternehmer nach Art. 6 Abs. 1 lit. c) Verbraucherrechterichtlinie[5] mitgeteilte Kontaktmöglichkeit eine Zugangsfiktion zugunsten des Verbrauchers gilt bzw. der Unternehmer zwingend den Empfang beispielsweise einer E-Mail quittieren muss. Darüber hinaus könnten die Verfahren der Auslandszustellung bei „small claims“ erheblich vereinfacht werden.

Die gerichtliche Zuständigkeit in Verbrauchersachen nach Art. 17 ff. VO (EU) 1215/2012 kann nur ein erster Schritt in die richtige Richtung sein. Weitere Schritte müssen folgen. So könnte die Vollstreckung eines im Aufenthaltsstaat des Verbrauchers erwirkten rechtskräftigen Titels im Ausland vereinfacht und schlagkräftiger gemacht werden.

Andere Rechtsordnungen, wie etwa die US-amerikanische, versuchen, durch das Konzept des Strafschadensersatzes („punitive damages“) ein „level playing field“ zwischen Unternehmer und Verbraucher herzustellen. Das sollte für uns allenfalls die ultima ratio sein.

Auch Fragen dieser Art werden im Vorschlag nicht gestellt.

4. Welches Europa wollen wir?

An gekonnt versteckter Stelle (unter II. 1, S. 13 oben) findet sich in der Stellungnahme des Deutsche Anwaltvereins folgender Satz: „Es muss den Parteien freistehen, selbst zu bestimmen, was geschuldet wird.“

Damit ist die in der Methode des Vorschlags steckende ideologische Problematik desselben auf den Punkt gebracht. Die Problematik manifestiert sich auch in der (möglicherweise nur vordergründig) handwerklichen Unzulänglichkeit des Vorschlags (vgl. Stellungnahme des DAV unter I. 5, S. 10 mit einer zutreffenden allgemeinpolitischen Aussage).

Über Erwägungsgrund 22 hinaus ist am Vorschlag generell irritierend, dass nicht klar wird, welchen Stellenwert der Vorschlag der Vertragsfreiheit einräumt. Zum „acquis communautaire“ der klassischen kontinentaleuropäischen Zivilrechtskodifikationen, aber auch zum angelsächischen Common Law gehört ein Denken in Regel-Ausnahme-Verhältnissen, wobei die Vertragsfreiheit der Parteien, gleich welcher Herkunft und welchen Standes, der Vorrang zukommt.[6] Erst kommt die Freiheit, dann ihre Beschränkung, die sie in der Freiheit des anderen findet.[7] Dann erst kommen weitere Zwecke.

Bezeichnend für die unklare ideologische Verankerung des Vorschlags ist auch, dass der Primat des Parteiwillens durch den des scheinobjektiven Kriteriums der „Vernunft“ ersetzt wird.[8]

Wie schon beim Projekt des Europäischen Vertragsrechts, so scheint die Europäische Kommission auch hier immer noch den Primat ökonomisch effizienter Güterverteilung vor der Freiheit des Individuums zu favorisieren. Besonders Erwägungsgründe 18 und 22 irritieren hier. Dieses Denken spielt etwa auch in Art. 2 lit. (g) hinein, der bei der Legaldefinition des Vertrags die Begründung von „Pflichten“ vor der Begründung „anderer rechtlicher Wirkungen“ betont. Von der Ideologie einmal abgesehen: Wie ist bei dieser Legaldefinition eigentlich der echte Vertrag zugunsten Dritter einzuordnen? Gibt es diesen dann noch?

Der Vorschlag ist hier zumindest missverständlich und erinnert – wenn auch wohl unbeabsichtigt – an die antiliberale Kritik rechter politischer Kräfte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ein nicht von subjektiven Freiheitsrechten, sondern von Pflichtenbindungen her bestimmtes ständisch geprägtes Gesellschaftsmodell anstrebten.[9] Damit wird denen in die Hände gespielt, die eine autoritär-nationalistische politische Wende anstreben.

Ein Europa, das sich derart von den Idealen des 14. Juli 1789 (und aus deutscher Sicht denen des 9. November 1989) verabschiedete, wäre nicht mehr das unsrige.

Druckfassung

Fußnoten:

[1] Noch schlimmer ist die Praxis, aufgrund Widerrufs zurückgegebene nicht mehr verkäufliche Ware in Länder der Dritten Welt zu „verramschen“, weil das dort heimische Produzenten ruiniert.

[2] Vgl. Begründung S. 6 und Erwägungsgrund 3 des Vorschlags.

[3] Nur ein Beispiel: Der „ARD ZDF Deutschlandradio Beitragsservice“, so die semantisch aufgewertete frühere Gebühreneinzugszentrale, hat hierfür die („Service-“)Rufnummern 01806 999 555 30 und 01806 999 555 01 geschaltet (20ct pro Minute aus dem deutschen Festnetz, 90 ct pro Minute aus dem deutschen Mobilfunknetz). Das gilt hier sogar für eine unmittelbar öffentliche Gewalt ausübende Institution.

[4] Empfehlung der Kommission vom 11.6.2013, Gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten (2013/396/EU), ABl. 2013 Nr. L 201, S. 60.

[5] Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2011 Nr. L 304, S. 64.

[6] Am schönsten bringt dies etwa Buch 1 Art. 1 Abs. 1 des niederländischen Burgerlijk Wetboek zum Ausdruck. Näheres, auch zum ideengeschichtlichen Hintergrund, in der Stellungnahme des Deutschen Notarvereins vom 4. Januar 2011 zum Grünbuch der Kommission KOM(2010) 348 endg., zum download verfügbar unter www.dnotv.de —> Dokumente —> Stellungnahmen —> 2011.

[7] Auf der handwerklichen Ebene zeigt sich die fehlende Bereitschaft zum Denken in Regel-Ausnahme-Verhältnissen etwa bei Art. 13 Abs. 1 des Vorschlags. Regelfall ist, dass Willenserklärungen nur dann einer besonderen Form bedürfen, wenn das Gesetz solches vorschreibt. Die Worte „auf beliebige Weise abgegebene“ sind daher nicht nur überflüssig, sondern wegen der Möglichkeit eines Umkehrschlusses schädlich.

[8] Siehe etwa Erwägungsgrund 18, Art. 5 bs. c (i) des Vorschlags; hierzu Stellungnahme des DAV S. 15-16. Das BGB legt anstelle des mindestens seit der Zeit des jakobinischen Terrors missbrauchsanfälligen Begriffs der „Vernunft“ in solchen Regelungssituationen den empirisch nachweisbaren Standard der „Verkehrssitte“ zugrunde. Der Pleonasmus „Im Interesse eines ausgewogenen Gleichgewichts“ im ersten Satz des Erwägungsgrunds 18 ist mehr als verräterisch. Der Verweis auf „Gebräuche und Gepflogenheiten“ ist zudem nur fakultativ („sollte“).

[9] Das Verbraucherrecht harrt angesichts seiner frühneuzeitlichen Vorläufer (Sonderrechte der personae miserabiles) als solches ohnedies der stimmigen dogmatischen Einfügung in das gemeineuropäische klassische liberale Narrativ des Privatrechts, das von der Gleichheit aller vor dem Gesetz und dem Wegfall ständischer Sonderrechte als Regelfall ausgeht.

 

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